„Die ersten Flüchtlinge aus dem Kreis Breslau (Schreibersdorf) trafen mit ihren Gespannen ein. Die Menschen abgespannt, total fertig, ich möchte sagen, sie waren am Ende. Bei Schneetreiben und starker Kälte waren sie schon tagelang unterwegs. Alte Leute und Kinder waren erfroren, am Wegrand in Schnee eingebettet zurückgelassen. Würde uns dies Los auch treffen?“
Frida Scholz, 1985
Bis zum 24. Februar 2022 war die Geschichte, die ich in diesem Beitrag teilen werde, eine Geschichte aus der dunklen Vergangenheit Europas des 20. Jahrhunderts. Doch wenn ich heute aufmerksam die Berichterstattung um den russischen Krieg in der Ukraine verfolge, muss ich oft an diese Geschichte denken. Auch wenn ich selbst nicht Teil dieser Geschichte bin, so waren es meine Vorfahren, und selbst wenn ich nicht dabei gewesen bin, habe ich bereits einige der Orte besucht, an denen sich diese Geschichte zugetragen hat.
Die Menschen in Deutschland und Mitteleuropa haben Mitte des 20. Jahrhunderts Ereignisse und Zeiten durchlebt, wie sie heute die Menschen in der Ukraine vermutlich auf vergleichbare Weise durchleben. Auch wenn die Waffen und Transportmittel heute andere sind, man auf andere Weise kommuniziert und die Wirtschaft vorangeschritten ist – ich bin mir sicher, dass das Leid der Menschen nicht geringer geworden ist. Aufgrund dieser Aktualität der Umstände möchte ich die Geschichte meiner Vorfahren von der Flucht aus Schlesien während der Jahre 1945 und 1946 heute mit euch teilen.
Die Geschichte von der Flucht aus Schlesien wurde mir häufig erzählt. Als Jugendlicher konnte ich damit wenig anfangen, ich konnte oder wollte mir das auch nicht vorstellen. Einige Zeit später erhielt ich ein Dokument als Zeugnis dieser Zeit: Ein Gedankenprotokoll meiner Großtante Frida aus dem Jahr 1985, in welchem sie die Ereignisse der Jahre 1945 und 1946 verarbeitete, bevor sie 1995 starb.
Die Geschichte dieser Flucht erzählt ebenfalls von meinem Großvater Kurt, der in dieser Zeit einberufen wurde und einige Jahre vor meiner Geburt starb, als auch meinem Onkel zweiten Grades, Eckhard, der bis heute noch am Leben ist und der mein Interesse für die Vergangenheit meiner Familie zu wecken im Stande war. Eckhard war auch derjenige, der die Aufschriebe der Großtante Frida von altdeutscher Hand- in Maschinenschrift übersetzte, um den Nachfahren die Lektüre zu vereinfachen.
Die Geschichte spielt – wie schon erwähnt – in den Jahren 1945 bis 1947 im damaligen Niederschlesien, der heutigen Woiwodschaft Niederschlesien in Polen, im damals von Deutschen besiedelten Nordböhmen (ugs. Sudetenland) auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens sowie den heutigen Bundesländern Sachsen und Niedersachsen. Ich habe die im Dokument erwähnten Ortschaften in der folgenden dynamischen Karte markiert und werde mich im Lauf der Geschichte auf diese Orte beziehen.
Die Aufregung begann, Januar 1945
Giersdorf in Schlesien – das heute in Polen gelegene Zeliszow – war die Heimat der Familie Scholz. Ein Ort, in dem es zu dieser Zeit mehr als 20 Familien mit dem Namen Scholz gab, einige davon sind auf der folgenden Grafik vermerkt und der Hof der Familie Scholz ist mittig gelb markiert.
Frida schreibt, dass sie vermutlich Ende Januar 1945 bei einem Besuch Ihrer Mutter in Harpersdorf Zeuge wurde, wie die ersten schlesischen Flüchtlinge aus Schreibersdorf (bei Breslau) in dem Ort eintrafen. Wenig später trafen auch in Giersdorf die ersten Flüchtlinge aus Breslau ein. Sie wurden mit Lastwagen vom Bahnhof Bunzlau gebracht und im Dorf verteilt.
„Das Jahr 1945 hatte begonnen. Voll Sorge hörte man die Wehnnachtsberichte und verfolgte den Vormarsch der Russen. Eines Tages, vielleicht Ende Januar 1945, besuchte ich in Harpersdorf meine Mutter und meine Schwägerin Herta. Das ganze Haus war voll Aufregung. Die ersten Flüchtlinge aus dem Kreis Breslau (Schreibersdorf) trafen mit ihren Gespannen ein.“
Weiterhin berichtet Sie:
„Die Menschen abgespannt, total fertig, ich möchte sagen, sie waren am Ende. Bei Schneetreiben und starker Kälte waren sie schon tagelang unterwegs. Alte Leute und Kinder waren erfroren, am Wegrand in Schnee eingebettet zurückgelassen. Würde uns dies Los auch treffen? Der Postbote brachte einen Brief von meinem Bruder Bruno. In diesem erwähnte er zweimal, ‚rettet Euer Leben, laßt alles zurück, aber rettet Euer Leben!‘ Dieser Satz und das Erlebnis mit den Flüchtlingen erfüllte uns mit Angst und Sorge.“
Erste Flucht, Februar 1945
Aufgrund dieser Entwicklungen begann auch die Familie Scholz, ihre Sachen zu packen und sich auf die anstehende Flucht vorzubereiten. Dazu wurde ein Fluchtwagen – also ein Gespann für Pferde oder Ochsen- zum Transport gebaut, während gleichzeitig Vorräte wie Lebensmittel zusammengepackt wurden.
„Auch in Giersdorf trafen die ersten Flüchtlinge aus Breslau ein. Sie wurden mit Lastwagen vom Bahnhof Bunzlau gebracht und im Dorf verteilt. Mein Schwager Kurt kam in Urlaub. Am nächsten Tag wurde der Befehl durchs Radio gegeben, alle Urlauber zurück! Er meldete sich in Bunzlau, konnte aber bleiben, da er Sonderurlaub hatte. Er war uns in den Tagen des Aufbruchs eine große Hilfe.
Unser Lehrer, Herr Lachmann, gab uns den Rat, bereitet Euch vor, auch wir müssen noch gehen. Diese Worte brachten ihm von Seiten des Ortsgruppenleiters große Unannehmlichkeiten. Ohne viel Aufsehen zimmerten wir uns einen Fluchtwagen zurecht. Martin, unser Gefangener aus Frankreich, er stand bei uns in Arbeit, und Nachbar Richard Kindler halfen. Mit dem Teppichen und Läufern aus dem Haus erhielt der Wagen ein Dach, er erhielt Sitzplätze für 3 Personen und zwei Kinder. Hinten wurde eine Trage angebracht für etliche Säcke Hafer (Pferdefutter).
Schwager Kurt versteckte und vergrub Wäsche, Kleider und Konserven. Opa riet mir, Brot zu rösten und Zwieback für die Kinder zu backen. Noch immer hofften wir auf ein Wunder, obwohl der Russe schon vor Liegnitz stand. Die Nächte waren voller Unruhe.
Im Dorf wurden Panzersperren gebaut und wieder eingerissen. Männer wurden noch zum Volkssturm eingezogen. Der Russe kam immer näher. Angst und Sorge ließ uns keinen Schlaf finden. Der Himmel war nur noch rot, der Kanonendonner immer deutlicher zu hören. Irgendwo fielen Bomben, die Erde erzitterte.
11. Februar, früh morgens um 4.00 Uhr, wurde an die Tür gepocht, es war Herr Lachmann. Er sagte uns, daß das Dorf um 12. 00 Uhr geräumt sein soll und wir unsere Wagen beladen sollen.
Schnell wurde das Vieh versorgt, der Wagen mit Betten, Kleidern, Wäsche und Lebensmittel beladen. Die Flüchtlinge wurden noch vor uns weggebracht. Wir boten ihnen an, für sie Sachen, die sie noch gebrauchen könnten, mitzunehmen. Frau Litfin, sie war aus Berlin evakuiert, ging mit uns und ihrem Sohn Peter, er war 1,5 Jahre, auf die Flucht. Das Gepäck der Familien, die kein Gespann hatten, wurde auf dem Wagen verteilt. Ich hatte noch den Mut, etliche Hühner und meine Puten zu schlachten. Sogar ein Mittagessen haben wir noch zustandegebracht (Pökelbraten).“
Nachdem alle Vorbereitungen getroffen wurden, sogar noch Puten und Hühne als Mahlzeiten geschlachtet und eingepackt waren, das Vieh versorgt war und Betten, Kleider und Wäsche auf dem Wagen verladen waren, ging es los.
„Es klopfte an die Tür, vor mir stand ein Soldat in Fliegeruniform vom Geschwader Rudel, schmutzig und sehr bleich. Er war abgeschossen worden und suchte ein Telefon. Als ich ihm einen Cognac reichte, sagte er, Leute, macht das ihr weg kommt, der Russe ist höchstens 15 km weg. Nun war es soweit. Die Tiere wurden angespannt, ein Pferd und ein Zugochse.
Opa lenkte die Tiere, er schloß sich den Gespannen an. Der Treck verließ das Dorf. Noch einmal ging ich durch unser Haus. Ich fütterte die Hühner, schüttete den Kühen die Krippen voll Futter, steckte die Raufe voll Heu und gab noch mal frische Streu. Auch den Schweinen füllte ich den Trog. Im Dorf liefen die Polen, die als Arbeiter im Ort waren, aufgeregt durch die Straßen, Es war unheimlich.
Nun nahmen auch mein Schwager Kurt und ich das Rad und fuhren dem Treck nach. Josef Nowak, unser Nachbar (Bäcker), rief uns mit tränenerstickter Stimme ein „Wiedersehen“ nach. Er blieb zurück, wurde von den Russen verschleppt, ist aber auf Grund seiner russischen Sprachkenntnisse heimgekehrt. Bald hatten wir den Treck eingeholt.“
Zu dieser Zeit wusste die Familie noch nicht, dass diese Flucht die erste von insgesamt drei Fluchtreisen sein wird, die ihnen in den kommenden 16 Monaten noch bevorstehen würden. Die erste Fluchtroute führte in Richtung Südwesten, in das von Deutschen (Sudeten) besiedelte Gebiet der heutigen Tschechei. Da den Flüchtenden Berichte bekannt waren, dass der Russe von zwei Seiten her angreifen würde, entschied man sich für diese Fluchtrichtung, um dem Vormarsch der Russen zu entkommen. So wurden russische Angriffe bzw. Besatzungen u. a. in Liegnitz, Goldberg, Lauterseiffen und Lauban bekannt.
Die erste Fluchtroute führte über folgende Stationen:
- Löwenberg [heute Lwówek Śląski] (erreicht am 11 Februar 1945, jedoch musste der Trek am 12. Februar 1945 nochmals dort hin zurück, da er in Görisseiffen nicht weiter kam)
- Görisseiffen [heute Płóczki Dolne] (erreicht am 11. Februar 1945)
- Schmottseiffen [heute Pławna Górna] (Quartier auf einem Bauernhof bis zum 14. Februar 1945)
- Egendorf (Anm. d. A.: diesen Ort konnte ich nicht ausfindig machen)
- Neundorf [heute Nová Ves] (gutes Quartier in einem Bauernhof)
- Wartenberg [heute Stráž pod Ralskem] (2 Tage Quartier in einer Tischlerei)
- Groß Grünau [heute Velký Grunov] (Quartier in einer Mühle)
- Straußnitz [heute Stružnice] (eher mäßiges Quartier in einem kleinen Bauernhof)
- Bensen [heute Benešov nad Ploučnicí] (Quartier in einem Milchgeschäft)
- Topkowitz [heute Dobkovice] (Quartier bei Familie Krumhaar, direkt an der Elbe gelegen, Dampfer fuhren vorbei)
- Gleimen [heute Hliněná]
„Es hieß, wir müssen so schnell wie möglich durch Löwenberg, der Russe greift von zwei Seiten an. Vorgedrungen war er schon über Goldberg, Hainwald bis Sauterseifen. Wir erreichten Görisseifen. Der Treck kam nicht weiter, die Straßen waren verstopft und die Strecke zu bergig. Mein Rad, das irgend wie unter einen Wagen gekommen war, ließ ich zurück.
Am 12.2. [1945] fuhren wir nach Löwenberg zurück. Hier traf ich unseren Gefangenen Martin mit anderen Kameraden wieder. Wir hatten für ihn unseren Handwagen mit Lebensmitteln gepackt, hauptsächlich Brot, Speck und Schmalz. Er wußte nicht, wie weit er kommen würde. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.“
Frida berichtete ausführlich von Schmottseiffen, das ihr im Gedächtnis blieb. Die Familie bezog Quartier im Bauernhof der Familie Baumert, der bereits voller Flüchtlinge war.
Sie berichtete hier von meinem Großvater Kurt, der gelernter Bäcker war und den Erzählungen nach immer gern Gäste bekochte.
„Wir fuhren bis Schmottseifen, hier wurde Quartier bezogen. Wtr waren auf dem Bauemhof Baumert. Das Haus war voller Flüchtlinge, Fam. Baumert rüstete auch zur Flucht. Zwei Schweine wurden geschlachtet und wir bekamen alle Wellfleisch zu essen. Schwager Kurt war auch gleich bereit beim Brot backen zu helfen, er war ja gelernter Bäcker. In Schlesien gab es in jedem Bauernhaus einen großen Backofen.“
In diesem Zusammenhang möchte ich auch ein weiteres Dokument meines Großvaters als Zeugnis heranziehen, das von seinem Ausbildungsbetrieb in Bunzlau stammte, wo er seine Lehre als Bäcker absolvierte und bis zum Kriegsbeginn arbeitete.
Frida berichtete weiter über die räumlich beengte Situation im Bauernhof, insbesondere als es um das Schlafgemach ging.
„Die Bettsäcke standen in der Ecke. Schlafinöglichkeit war nur der Fußboden. Also holten wir frisches Stroh und breiteten die Decken aus. Alle legten sich zum Schlafen, nur Eckhard, mein 2 ½ Jahre alter Sohn wollte nicht. Er rief voller Entsetzen: ‚Nein, nein, das ist doch für die Muh, nein Oma, das ist für die Muh‘. Erst als ich mich zur Ruhe begab kam er angekrochen.“
…
„Am 14. Februar mußten wir Schmottseifen verlassen, der Russe war vorgedrungen und Löwenberg war in Gefahr. Wir sprachen noch mit einem Ehepaar, welches ein Gasthaus in Bunzlau besaß. Sie waren in letzter Minute vor den Russen geflohen, Schießen, Kriegsgeschrei und Hilferufe von Frauen hatten sie in Panik versetzt.
Wir fuhren nun bis Egendorf Herr Lachmann leitete den Treck. Mit zwei Familien waren wir bei einem Bauern einquartiert. Soviel wie mir in Erinnerung geblieben ist war es Familie Helbig und Familie Peters mit Bruder Johann aus Rosenthal. Hier wurden meine mitgebrachten Puten gemeinsam verspeist.“
Mein Großvater Kurt musste die Gruppe nun verlassen, um sich in Friedeberg in der Kaserne zu melden. In Straußnitz angekommen, berichtete Frida von der Erschöpfung der Kinder und den widrigen Umständen der Reise:
„Schwager Kurt verließ uns, er mußte sich in Friedeberg melden. Der Treck fuhr weiter unter der Leitung von Herrn Lachmann. Wiegandtal, nie werde ich diese Nacht vergessen. Unser Gespann hielt im Park unter einem großen Baum und Sträuchern. Opa, Oma, Frau Litfin und die Kinder waren im Schulraum untergebracht. Ich versuchte, im Wagen zu schlafen, doch die Tiere waren sehr unruhig. Bald erzitterte die Luft von Kanonendonner. Der Russe nahm Laubau ein. Es war eine Furchtbare Nacht. Als es am Morgen weiter ging, waren wir alle erleichtert.
Nun ist mir der Fluchtweg ein wenig entfallen. Ich will nur die Orte herausgreifen, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Die Reiseroute von Horst Peter war sehr gut zusammengestellt, er war damals noch sehr jung, ihm besonderen Dank. Neundorf, Sudetendorf, hier hatten wir ein sehr gutes Quartier auf einem Bauernhof. Auf der Weiterfahrt wurde die Suche nach Quartieren immer schwieriger.
Ich erinnere mich an Wartenberg, hier hatten wir für zwei Tage ein sehr gutes Quartier in einer Tischlerei. Die Gespanne waren im Stall einer Domäne untergebracht, die Wagen auf dem Markt aufgereiht. Ich schlief wieder im Wagen. Dann Groß Grünau, Quartier in einer Mühle. Frau Litfin war in großer Sorge, da ihr Peter krank war. Die Quartiersleute waren so nett und holten einen Arzt.
Nach zwei Tagen ging es weiter, Peter ging es etwas besser. Straußnitz erreichten wir am Abend, es war sehr schlechtes Wetter und ich brachte die Tiere in einem Stall unter. Frau Litfin hatte ein Quartier entdeckt in einer kleinen Landwirtschaft. Ich möchte sagen, es war ein Durchgangslager für Soldaten. Sie gingen, wir kamen. Es waren noch nicht einmal 10 Betten im Haus. Alfred und Alice Dittrich waren auch bei uns.
In diesen Tagen weinten die Kinder sehr viel, wir konnten sie kaum beruhigen. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und der Hausbesitzer schrie uns an: ,’Ihr Rabenmütter, schämt euch, habt nichts zu tun und seid zu faul, euch um eure Kinder zu kümmern!‘ Wir konnten nichts erwidern, waren ja froh, daß wir eine Bleibe hatten wo wir kochen und Kinderwäsche waschen konnten.“
Erst als sie in Topkowitz ankamen, schien sich die Situation langsam zu entspannen und die Flucht ein Ende zu nehmen.
„In Bensen waren wir in einem Milchgeschäft untergebracht. Einen Tag später erreichten wir Topkowitz. Endlich wurde dem Treck ein Halt geboten. Mensch und Tier waren geschafft. Unser Gespann hatte gut durchgehalten. Ich war die ganze Strecke zu Fuß gelaufen und bediente die Berge runter die Bremse.“
Die Zeit in Gleimen
Gleimen – ein kleines Dorf bei Topkowitz – bot der Gruppe dann etwas länger Unterschlupf. Hier blieben die Geflüchteten und schienen sich – den Umständen entsprechend – auch wohl zu fühlen, wie es Frida berichtet.
„Wir waren bei einer Familie Krumhaar untergebracht. Vor unserem Fenster floß die Elbe vorbei. Die Kinder freuten sich über jeden Dampfer. Eckhard rief immer wieder:“ Mutter, ein Damzer“ und Peter rief das Gleiche. Wir wohnten mit Oma Krumhaar zusammen und sehr beengt.
Nach einer Woche wurden wir nach Gleimen verlegt. Es ist ein kleines Dorf, ca. 3-4 km von Topkowitz entfernt. Es waren noch einige Familien aus Giersdorf in dem Ort angekommen. Auch unsere guten Freunde Opa und Oma Bänsch mit Tochter Meta und Sohn Werner Heier. Unsere Gespanne waren beim Ortsbauernführer untergebracht, der uns auch Futter für die Tiere lieferte.“
Wir wohnten mit Frau Litfin und Peter bei einem Herrn Pätzold. Opa und Oma schliefen nebenan bei einem Nachbarn. Her Pätzold war ein alleinstehender älterer Mann, bekannt als komischer Kauz und Einsiedler. Als er am ersten Abend Frau Litfin und mir seine Verordnungen und Verbote mitteilte waren wir sehr geknickt. Ja, wir glaubten fest, daß dieser Mann hexen könnte. Doch wir sind dann sehr gut mit ihm ausgekommen.
Jeden Morgen stand ein großer Korb mit Feuerung vor unserer Tür und auch oft ein Körbchen mit Äpfeln. Nach einiger Zeit sagte er zu uns: ‚Es ist sehr schön, nicht mehr allein im Hause zu sein‘. Wir bekamen auch unsere Lebensmittelkarten. Wir verlebten dort eine ruhige Zeit. Wenn nur die Sorge nicht gewesen wäre um unsere lieben Männer, der verlassenen Heimat und der ungewissen Zukunft.
Frau Litfin und ich schrieben jede Woche zwei Briefe in’s Feld. Leider bekam ich nie Antwort, hatte seit Dezember nichts mehr von meinem Mann gehört. Frau Litfin erhielt ein mal Post.
Der Frühling zog ins Land. Die Veilchen blühten an den Rändern und Hängen wunderschön, über dem ganzen Ort lag ein Veilchenduft. Nie wieder habe ich so einen Veilchenteppich gesehen.“
Doch es kam der Tag, an dem der Krieg zu Ende ging. Nach der deutschen Kapitulation am 7. Mai 1945 musste die Gruppe erneut aufbrechen, denn in diesem von deutschen besetzten Teil der Tschechei durften weder sie, noch die bisher hier lebenden Deutschen länger bleiben.
„Der Tag der Kapitulation kam und damit das traurige Kriegsende. Deutsche Soldaten kamen zurück und versuchten Zivilkleidung zu bekommen. Im Feld und Gebüschen lagen Uniformen, Wehrmachtsautos standen verlassen in der Gegend. In Topkowitz war der Russe eingezogen. Man hörte von Grausamkeiten und Vergewaltigungen.“
…
„Beim Ortsbauernführer lagen die Keller voll mit Wehrmachtsgut. Es waren, daran kann ich mich erinnern, Jagdwurstkonserven. Ehe der Russe sie in Beschlag nahm, verteilte er je Person sechs Dosen. Auch wir Flüchtlinge bekamen welche, die uns später sehr geholfen haben.“
Rückkehr nach Giersdorf, Mai 1945
Nachdem die Gruppe erst von den Russen flüchtete, die Stück für Stück Schlesien eroberten, mussten sie nun nicht mehr alleine vor den Russen flüchten, sondern wurden auch davor gewarnt, dass nun auch Tschechen kommen, und das zuvor von deutschen besiedelte Land in Beschlag nehmen würden.
„Der Tscheche übernahm die Verwaltung. Wir wurden aufgerufen, sofort das Land zu verlassen, sonst würde unser Flüchtlingsgut den Tschechen gehören. Unser Hausherr war kopflos, alle Sudetendeutsche waren voller Angst. Sie bekamen ja auch die Ausweisung. Hatten doch an Hitler geglaubt bis zum bitteren Ende. In Eile wurden die Wagen beladen.
Der Treck war bald aufgefahren, die Führung übernahm wieder Herr Lachmann. Die Nacht war angebrochen und wir hatten schon eine lange Strecke hinter uns. Wir wollten eine Ruhepause einlegen. Da kamen Russenautos und hielten an. Der russische Offizier der gut Deutsch sprach, riet uns, bald weiter zu fahren da hier der Tscheche noch alles in Beschlag nehmen kann. ‚Fahrt weiter‘, sagte er, ,’ihr habt die Grenze bald erreicht‘.“
Als ging es zurück nach Schlesien, zurück nach Giersdorf.
„Die Orte, welche wir dann durchfahren haben weiß ich nicht mehr. Doch die Strecke war sehr bergig. Die Tiere schafften die Berge nicht, es mußte vorgespannt werden. Wir halfen uns gegenseitig, es war eine Qual.
Russisches Militär überholte uns oder kam uns entgegen, es war ein großes Durcheinander. Heute kann ich es mir nicht mehr vorstellen, wo wir Frauen die Kraft hernahmen, um dies alles zu bewältigen. Unser Zugochse hatte sich ein Bein vertreten, vielleicht auch Überanstrengung. Der Knochen war sehr stark geschwollen, ans Ziehen war nicht mehr zu denken. Die gute alte Grete, unser Prerd, schaffte es nicht, aber wir mußten doch mit. Da griffen hilfsbereite Arme zu und der Wagen rollte wieder.
An der Strecke lag ein einsamer Bauernhof. Einige Frauen und ich gingen hin um zu schauen, ob es da vielleicht ein Tier zum tauschen gab. Doch der Hof war geplündert worden, zwei Zugtiere im Stall, doch die Beine zerschoßen. Paul Wehner, unser Giersdorfer Schlachter, sprach mir Mut zu. Er besaß ein Fahrrad und wollte in die umliegenden Ortschaften, um ein Ersatztier für uns aufzutreiben. Herr Wehner kam zurück, er hatte ein Pferd für mich. Schon kam der Besitzer, er hatte einen kleinen Russenschimmel. Der Tausch ging von statten aber ich mußte zuzahlen. Ich hatte wenig Hoffnung, daß der kleine Schimmel unseren Ochsen ersetzen würde. Doch zu unserem Erstaunen zog das Tier, man möehte sagen, über seine Kräfte. In oder bei Lauban wurden wir nochmals von Russen angehalten. Etliche Männer wurden entführt, darunter auch Herr Lachmann. Die Fahrt ging weiter.“
Die Gruppe erreichte wieder Niederschlesien und war erschüttert, wie es nun in ihrer alten Heimat aussah.
„Unsere Heimat, wie war sie verwüstet. Zerschossene und abgebrannte Gehöfte, auf den Feldern Schützengräben, Bunker, verminte Wege, Stacheldrahtverhaue überall, die Folgen und Schrecken der Front.
Wir kamen in die Nähe von Sirgwitz [heute Żerkowice]. Erstaunt sahen wir Prerde auf der Weide. Wem würden sie wohl gehören? Wir sollten es bald wissen. Polen standen an der Straße, sie musterten unsere Gespann. Die besten Prerde wurden weggenommen, es gab dafür verbrauchte und abgemagerten Tiere. Herr Wehner verlor beide Pferde. Mein ungleiches Gespann erregte kein Interesse. Am schlimmsten traf es Bauer Erwin Hellwig. Er versuchte die Zügel fest in der Hand zu halten, aber die Leinen wurden einfach durchgeschnitten, die Tiere abgeführt, Ersatz gab es nicht.
Da es nicht mehr weit bis Giersdorf war, wurde der Wagen angehängt.“
Endlich erreichte die Gruppe die alte Heimat – Giersdorf!
„Wir zogen in unser Giersdorf ein, es war ein trauriger Einzug. Etliche Familien waren schon da, einige kamen nach uns an. Es waren die Familien die zurück geblieben waren, allerdings nur die Frauen mit ihren Kindern. Die Männer waren von den Russen verschleppt worden, sie sind nie wieder zurückgekehrt, außer Bäckermeister Nowack. Die Frauen und Kinder sind aus Giersdorf vertrieben worden. Sie waren den Grausamkeiten und Vergewaltigungen der Russen ausgeliefert, mußten Viehherden treiben, melken und füttern.
Doch der Anblick des eigenen Zuhauses, der eigenen Hofstelle, er schockierte die Heimkehrer.
Wir fuhren auf unseren Hof. Welch ein Anblick!! Fenster und Türen stand offen. Die Tiere im Stall unterzubringen war unmöglich. Der Prerdestall war halbvoll Mist und Unrat. Im Kuhstall war es nicht besser, es stank nach Fäulnis und Verwesung. Die Tiere wurden in der Scheune untergebracht. Der beladene Wagen mußte so schnell wie möglich verschwinden, da er sonst geplündert oder gar weggefahren worden wäre.
Wir betraten das Haus. Unsere Augen sahen nur Dreck, Schmutz und Verwüstung. Die Möbel waren umgeworfen, z. T. kaputtgeschlagen, die Gardinen abgerissen und die Stangen zerbrochen. Die zurückgelassenen Betten aufgeschlitzt, auf gemeinste Weise verschmutzt und geöflhete Kompostgläser in die Federn geschüttet. Nun hieß es erst mal einen sauberen Schlafraum zu schaffen und die Küche zu säubern. Bettstellen konnten nicht aufgestellt werden, waren auch zum großen Teil kaputt. Matratzen fehlten ganz, später haben wir sie im Bunker wiedergefunden. Wir schliefen alle gemeinsam in einem Raum auf Stroh und Decken und Betten, die wir mitgebracht hatten. Auch Schwägerin Dora, Ursel und Ingeborg schliefen bei uns. Aus Angst vor den Russen schliefen immer mehrere Familien zusammen.
Nun hieß es Haus und Ställe zu säubern. Oma und Frau Litfin schafften im Haus, Opa und ich gingen in die Ställe. So manches Kleid und Wäschestück meiner Aussteuer fand ich im Mist völlig unbrauchbar wieder. Alles was Schwager Kurt versteckt und vergraben hatte, war gefunden worden. Im Kuhstall lag unter Mist und Dreck ein verendetes Kalb. Vor Ekel mußte ich immer wieder an die frische Luft, aber so sah es in fast jedem Haus aus. Doch durch harter, unermüdlicher Arbeit war es bald einigermaßen in Ordnung.“
In dieser unglaublichen Situation, dieser Unordnung und diesem Ekel, schafften es die vom Leid geplagten dennoch, sich Stück für Stück eine neue Normalität des Alltags aufzubauen, die sogar manche Freude zuließ.
„An die Fn1hjahrsbestellung wurde gedacht, Kartoffeln gepflanzt, Saatgut lagerte ja noch im Keller und in Gruben. Noch hatten wir ja die Gespanne. Eines Tages brannte sogar, durch den Einsatz unserer Männer insbesondere durch Henn Lachmann, das elektrische Licht. Schwager Erich kehrte heim, er war trotz großer Gefahr, über die Neiße gekommen. Welch ein Freudentag in dieser traurigen Zeit.
Die russische Kommandantur kam in unser Dorf und besetzte den verlassenen Hof von Bauer Müller, direkt neben uns gelegen. Dadurch hatten wir großen Schutz vor Plünderung und Vergewaltigung der Russen. Sie waren zwar verboten, aber es gab auch keine Hilfe, wenn immer wieder diese Überfälle vorkamen.“
Die besagte russische Kommandantur auf dem Hof des Bauern Müller lässt sich tatsächlich auch auf dem beschrifteten Plan von Giersdorf (siehe oben) ausfindig machen. Ich habe ihn in der folgenden Grafik neben dem gelb markierten Hof der Familie Scholz in rot markiert. Bei dem Hof des Bauern Müller scheint es sich um einen vergleichsweise großen Hof zu handeln, was die Entscheidung der Russen, diesen Hof zu wählen, ggf. auch begünstigt haben kann.
Am 10. Septemeber 2020 besuchte ich Giersdorf und fotografierte die ehemalige Hofstelle Müller.
Die Leute richteten sich nun also erneut ein, man beschaffte sich erneut, was man zum Leben brauchte. Zu diesem Zweck wurde unter anderem neues Vieh aus der Umgebung beschafft.
„Vierzig Kilometer von uns entfernt war kein Kriegsgebiet gewesen, den Leuten war alles erhalten geblieben. Ein Pferdewagen voll besetzt mit Leuten aus dem Dorf. auch ich war dabei, brachen unter Leitung von Herrn Lachmann auf, um Kühe in unser Dorf zu holen.
Wir fuhren über Löwenberg in den Ort Bimgritz. Hier suchten wir die Bauernhöfe auf jeder wollte ein Kuh erstehen. Ich hatte Glück, konnte ein schönes Tier, welches im September kalben sollte, für 500 Mark erstehen. Auch zwei Hühner konnte ich auftreiben. Noch waren wir nicht zu Hause, noch konnte uns unterwegs alles abgenommen werden. Doch wir kamen mit unseren Tieren gut nach Hause.
Jetzt hatten wir eine Kuh im Stall, etwas Milch für die Kinder und am nächsten Tag sogar schon ein Ei. Der Roggen war reif. Nun ernteten die Russen, was wir ausgesät hatten. Täglich mußten sich Leute zur Arbeit auf der Kommandantur melden. Auch ich bin mit dem Gespann einige mal da gewesen.“
Doch kaum war ein wenig Normalität eingekehrt, musste man sich doch wieder bereit machen, die geliebte, wieder gewonnene Heimat erneut zu verlassen. Ca. 2 Monate dauerte der Aufenthalt in Giersdorf diesmal an.
„Es war Ende Juni [1945], eigentlich wollten wir uns an diesem Tag ein wenig Ruhe gönnen. Etwas Roggen und Heu war eingefahren, da Haus, in dem Frau Litfin unermüdlich aufgeräumt und geputzt hatte, soweit wieder in Ordnung. Wir schliefen auch wieder in Betten, aber alle noch in einem Zimmer.
Eine Nachbarin kam und erzählte, dass Wilhelmsdorf [heute Sędzimirów], ein Ort ca. 6 km von uns entfernt, wieder ausgewiesen wurde. Ob es noch am selben Tag geschah oder etwas später, weiß ich heute nicht mehr.
Polnische Melitz/Polizei fuhr durch das Dorf Sie gaben bekannt, alle Deutschen werden ausgewiesen und haben bis heute abend das Dorf zu verlassen. Wir könnten mitnehmen, war wir besitzen und wegbringen können. Also ging es wieder los.
Noch hatten wir etwas Hoffuung, denn Herr Lachmann und einige Männer liefen sofort zu Kommandantur. Der russische Kommandant, er war etwas deutschfreundlich, versprach zu versuchen, das Dorf vor der Austreibung zu verschonen. Aber bald kam die Nachricht, er könne nichts machen, wir müssen weg.“
Zweite Flucht, Ende Juni 1945
Die zweite Fluchtroute verlief – anders als die erste – direkt in Richtung Deutschland. Eine andere Möglichkeit blieb auch nicht. So setzte sich der Tross erneut in Bewegung, um dann kurz vor der deutschen Grenze nochmals angehalten und der meisten Habseligkeiten und Tiere entledigt zu werden.
„Das Beladen der Wagen ging sehr schnell. Jede Familie, die kein Gespann hatten, wußte noch von der ersten Flucht her, aufweichen Wagen sie ihr Flüchtlingsgut bringen konnten. Auch auf Handwagen und Karren versuchte man noch etwas zu retten. Unser Wagen, dem wir schnell wieder das Dach aufgesetzt hatten, war beladen, alles was in Versteck war, wurde hervorgeholt. Hinten wurde die Kuh angebunden, die Hühner unter den Wagen gehängt und schon ging es unter Bewachung der polnischen Polizei aus dem Ort.
In Ludwigsdorf wurde das erstemal gehalten und übernachtet. Ludwigsdorfliegt ca. 5 km von Giersdorf entfernt.“
…
„In Ludwigsdorf kamen Polen und boten mir für die Kuh 400 Mark an aber ich lehnte ab. Doch die Hühner wurden abgeschnitten und mitgenommen. Am nächsten Tag ging es unter Bewachung weiter. Ich lief neben dem Wagen, plötzlich kamen Polen, durchschnitten den Strick meiner Kuh und verschwanden damit. Auf diese Weise verloren wir alle unsere mitgeführten Tiere.“
…
„In Florsdorf wurden wir wieder in die verlassenen Häuser und Gehöfte eingewiesen. Am nächsten Tag in aller Frühe trieb man uns auf die Straße. Die Polen durchkämmten jedes Haus. Es ging weiter, immer mehr Polen gesellten sich zum Treck. Sie bedrohten uns. Viele konnten Deutsch und riefen uns zu: ‚Bald wird euch alles weggenommen. Eure Kinder werden mit Benzin übergossen uns in die Neiße geworfen!‘ Was würde uns bevorstehen? Mich erfüllte nur der eine Gedanke: ‚Laß sie dir alles nehmen, aber lieber Gott, erhalte mir Eckhard!‘
Wir erreichen den Ort Lissa. Der Treck wurde auf einen großen Platz gelenkt und die Wagen mußten nebeneinander auffahren. Überall polnische Polizei. Auf eine Art Podium stieg ein Pole, er sprach fließend Deutsch, und verkündete mit lauter Stimme, alles was auf diesem Platz steht, ist polnisches Staatseigentum. Die Deutschen müßten mit Handgepäck durch die Sperre gehen.
Was nun? Plötzlich hieß es, auf dem Platz ganz hinten stehen Handwagen und Karren. Die ersten kamen schon mit irgendeinem fahrbaren Gestell. Auch ich rannte los und erwischte von einem Pferdewagen die Hinterkarre. Wir packten schnell auf, Koffer und Säcke mit Betten, Kleider und Wäsche, vor allem aber unsere Lebensmittel. Noch hatten wir einen großen Beutel mit Mehl und Grieß. Der Wagen war viel zu schwer. Den Pferden warfen wir einen Sack Hafer vor. Alle klopften wir noch einmal die liebe, alte, treue Grete. Sollte sie sich doch die Kolik anfressen, vielleicht wurde sie erschossen.“
…
„Ein polnischer Wachsoldat drückte ihr im Vorbeigehen eine Wurstkonserve in die Hand und wollte uns unauffiillig an der Kontrolle vorbeischleusen, aber leider verstanden wir seine Zeichen erst, als es zu spät war. Die Kontrolle war in einer großen Feldscheune. Hier wurde noch einmal alles durchsucht und was gefiel wurde uns weggenommen.
Wir standen mit unseren Zweirädern bereit. Noch lief alles gut. Zum Verhängnis wurde mir eine Handvoll alter Silbermünzen. Im letzten Augenblick hatte ich sie in eine Aktentasche, in der Näh-und Stopfgarn war, geworfen. Das Wort Sabotage fiel, Hitlersau rief man mir zu und schlug mich mit Gummiknüppeln. Als ich noch sah, daß der Wagen abgeräumt wurde, zwei Koffer mit Wäsche und Kleider wurden auf die Tenne geworfen, war ich am Ende, hatte keine Kraft mehr, irgend etwas zu retten. Es wurden wieder Säcke auf den Wagen geworfen und man schob mich ab.
Ich wollte zurück zum Wagen, doch Oma und Opa hielten mich ab, sie erschießen dich, was soll dann aus Eckhard werden. Frau Litfin hatte die Kinder an sich genommen und noch eine Kanne mit Sirup gerettet. Dies alles war am 28. Juni [1945], meinem siebten Hochzeitstag.
Wir wurden wieder in die verlassenen Häuser gewiesen. Am nächsten Tag ging es weiter nach Görlitz. Eine Strecke vor Jammer und Elend. Alte und kranke Leute saßen am Straßenrand, Mütter mit Kindern völlig erschöpft. Auch wir koMten nicht mithalten und blieben bald zurück. Die Kinder hatten wir auf den Wagen gesetzt, Oma und Frau Litfin schoben und ich zog. Opa, der schon damals gehbehindert war, lief am Stock nebenher, bergab setzte er sich auf die Deichsel.
Wir mußte eine Ruhepause einlegen und gingen in ein verlassenes Haus. Hier fanden wir Kartoffeln und Gemüse und kochten uns ein Mittagessen. Wir nahmen auch etwas Vorrat mit. Gegen Abend kamen wir über die Neißebrücke in Görlitz an. Wir glaubten, sie würden uns in ein Lager bringen, aber niemand kümmert sich um uns. Die Anlagen der Stadt waren voll mit Flüchtlingen.
Wir trafen unsere Giersdorfer wieder. Einige Tage haben wir in den Anlagen gelegen. Es wurde häßliches Wetter. Richard Kindler unser Nachbar, hatte ein leerstehendes Haus entdeckt und wir zogen mit vielen Flüchtlingen ein. Es war eine Klinik.“
Obwohl man nun schon zum zweiten Mal aus dem Heimatort geflohen war, hatten die Schlesier offensichtlich dennoch Grund zur Hoffnung. Es gingen Gerüchte um, dass einige Flüchtlinge aus der Gruppe auch wieder zurück nach Hause konnten – denn sie kamen nicht mehr nach. Und so harrte die Gruppe Geflüchteter einige Zeit an der deutsch-polnischen Grenze aus und schlugen sich durch, bis sie mehr wussten.
„Opa ging alle Tage zur Neißebrücke und wartete vergebens auf seinen Sohn Erich und Familie. Plötzlich war der Strom der Flüchtlinge vorbei. Die Neiße, die Grenze der heutigen DDR war geschlossen. Wir erfuhren. daß die drei Plündertage der Polen. welche mit Genehmigung der Russen eingesetzt wurden, vorbei waren. Einige Wagen vom Treck hatten die Möglichkeit gehabt, in Florsdorf zuriickzubleiben. Darunter auch Schwager Erich. Sie kamen mit ihren Gespannen nach einer Woche wieder gut in Giersdorf an. Der russische Kommandant war erfreut.
Frau Frieda Krause, eine Giersdorferin und Mutter von drei Buben im Alter von 6-10 Jahren. und ich zogen alle Tage aufs Land um etwas Gemüse und ein paar Kartoffeln zu erstehen. Eines Tages kamen wir zuriick. Es war so komisch ruhig im Haus, betraten unser Zimmer. Kinderbetten waren aufgestellt. Eine Schwester kam und wies uns recht unfreundlich mit den Worten ‚Raus mit Euch, hier habt ihr nicht’s zu suchen!‘ aus dem Haus. Wir waren wieder mal am Ende.
Wo sind unsere Leute? Man hatte sie schon am Vormittag rausgeworfen. Oma kam angelaufen, sie hatten mit noch einigen Familien Zuflucht gesucht unter der Veranda eines Gasthofes. Auch hier sind wir einige Tage geblieben. Im Keller stand ein großer Herd; wer Holz und etwas zu kochen hatte konnte sich dort ein Essen bereiten. Täglich kam die Polizei, mitunter mehrmals und forderte uns auf weiterzuziehen. Konnten auch nicht bleiben.
Unser Vorrat an Mehl und Grieß nahm ab. Wir brachen auf und kamen gegen Abend in Kodersdorf an. Es trafen noch andere Giersdorfer Familien ein. Fanden auch ein Quartier bei einem Gärtner. Sollten im Garten helfen. Doch nach der ersten Nacht mußten wir schon weiter, wir konnten nicht bleiben.
In einem kleinen Stübchen waren wir untergebracht, mit noch einer Frau und ihrer kranken Tochter. Sie lagen auf Stroh und Decken. Das Mädel war völlig verlaust. Die Läuse liefen ihr über ihr Gesicht, sie nahm sie ab und warf sie in die Stube. Ein anderer Raum war nicht vorhanden. So ging es wieder auf die Straße.
Wir waren gegen Abend in Seifersdorfund standen vor einem großen Bauernhof. Jemand ging fragen, ob wir übernachten könnten. Wir durften und konnten sogar alle bleiben. Dwr Besitzer hieß Elsel und lebte mit seiner Frau allein. Die Ernte war einzubringen und wir halfen, so gut wir konnten. Gingen wir mit aufs Feld, gab es ein belegtes Brot mit Wurst oder Schinken. Dies wurde dann beim Abendbrot gemeinsam verzehrt. Unser Mittagessen konnten wir bei Frau Elsel in der Küche kochen, die uns oft in unsere Töpfe etwas Bratensauce tat. Kartoffeln, die in der Scheune lagerten, konnten wir uns hinnehmen, auch ein paar Pfund Getreide bekamen wir. Dieses konnten wir in der Mühle in Mehl tauschen und dafür erhielten wir beim Bäcker ein Brot.
Doch dies alles war eines Tages vorbei. Herr Elsel fuhr ein paar Ortschaften weiter und holte uns Brot, aber für wie lange? Kühe und Schweine waren auf dem Hof nicht, die hatte der Russe abgetrieben, weil Herr Elsel Parteimitgleid gewesen war. Ein Pferd wurde geschlachtet für die Flüchtlinge. Beim Fleischer stand der Hof und die Straße voller Menschen, wir standen Stunden als sich nicht die Ladentür, sondern die Haustür öffnete. Beim nächsten ging die Ladentür auf und die Leute hatten sich an beiden Türen aufgestellt. Doch dann kam die Polizei und wir durften nur durch die Ladentür eintreten. Jeder erhielt ein kleines Päckchen, daß wir es zu Hause auspackten. Es enthielt einen Markknochen mit zwei Bissen Fleisch dran.
Ein andermal standen wir Stunden für eine Scheibe Rotwurst an. Wenn uns Herr Elsel nicht auf dem Feld brachte, liefen wir früh morgens, vielleicht um 5 Uhr morgen nach Thiemendorf. Wenn sich dort die Zentrifugen drehten, bekamen wir etwas Milch. Oft mußten wir 4-5 Gehöfte abklappern, ehe unsere 2-Liter-Kanne voll war. An einer Stelle bekamen wir mitunter ein Päckchen Quark, was waren wir dankbar. Im Walde sollte es Heidelbeeren geben. Auch wir liefen ungefähr 10 km hin. Der Wald war voller Menschen. Den ganzen Tag sind wir umhergelaufen und vielleicht zwei Handvoll Beeren gepflückt. Dies gab ein Essen mit Grießbrei.“
Die zweite Rückkehr nach Giersdorf, Sommer 1945
Noch immer vom Gedanken beseelt, wieder zurück in die geliebte Heimat kommen zu können, ging man Gerüchten auf die Spur und ließ nichts unversucht, um wieder nach Giersdorf zu gelangen. Und tatsächlich: Per Zug ging es erneut zurück!
„Es wurde erzählt, in Zodel könnte man über die Neiße. Auch wir wollten nach Hause, also brachen wir auf. Herr Eisel fuhr uns noch ein gutes Stück, unsere kleinen Wagen aufgeladen oder hinten angehängt. Als wir gegen Abend in Zodel angelangt waren, mußten wir erkennen, daß es eine Falschmeldung war. Mit Müh und Not fanden wir einen leerstehenden Schweinestall, eine Unterkunft für einen Nacht. Am nächsten Tag zogen wir wieder nach Seifersdorf zurück.
Zwei Wochen waren fast wieder vergangen. Opa und Oma, die sich auch irgendwie beschäftigten, hackten hinter der Scheune Holz, als wieder ein Trupp Flüchtlinge die Straße entlang kam. Darunter waren auch Leute aus Giersdort: die nach Hause wollten. Sie erzählten, daß in Giersdorf noch keine Polen eingetroffen sind, nur die russische Kommandantur und viele Giersdorfer wären schon nach heimgekehrt. Von Wehrkirch könnte man mit dem russischen Beutezug mit.
Doch wir waren vorsichtig geworden, zwei Männer liefen erst mal hin, um sich von der Wahrheit zu überzeugen. Alles stimmte. Schon am nächsten Tag brachen wir auf. Frau Krause, die sich nicht fühlte, blieb zurück. Sie ist später an Typhus erkrankt. Unsere geretteten Sachen ließen wir bei Bauer Eisei zurück und nahmen nur das Allernotwendigste mit. Für Eckhard bekam ich eine Sportkarre. Dann zum Bahnhof Wehrkirch.
Viele Menschen lagerten dort, alle wollten nach Hause. Der erste Zug, der kam, fuhr durch. Man erzählte, oft müßte man 1-2-Tage auf den nächsten Zug warten. Wieder kam ein Zug, dieser hielt an. Wir hatten Glück, es war ein Güterwagen. Erst halfen wir Opa hoch, hilfreiche Arme streckten sich gleich entgegen, Oma wurde hochgezogen, dann Eckhard mit der Karre, ich sprang hinterher und schon fuhr der Zug an. Familie Peters und Hellwig standen noch auf dem Bahnsteig, sie kamen einen Tag später an. Nun begann die Angst, ob der Zug in Bunzlau hält denn oft fuhr er bis Liegnitz durch, das waren 50-60 km weiter. Bunzlau wurde erreicht, der Zug hielt. Im Nu war der Bahnsteig voller Menschen auch Giersdorfer waren wieder dabei. Wir zogen langsam los. noch hatten wir 9-10 km vor uns, dann waren wtr zu Hause. Hackenwald, eine Ruhepause. Ich lief ein wenig im Wald umher und fand Pfifferlinge.
Wieder zu Hause, aber nicht mehr allein
„Endlich waren wir in Giersdorf, Erich und Familie erwarteten uns schon und luden uns zum Abendessen ein.
Wir betraten uns Haus, natürlich war alles wieder in Unordnung. Erich hatte zwar immer wieder Türen und Fenster geschlossen, aber abschließen durfte man ein verlassenes Haus nicht, da würden sie alles kaputtschlagen. Eckhards Kinderbetten fehlte, aber was machte es, wir waren zu Hause. Im Keller lagerten Kartoffeln, in der Scheune Getreide, im Garten wuchs etwas Gemüse, so brauchte ich nicht mehr betteln gehen.
Das Leben ging weiter, zwar in Angst und Sorge doch mit frischem Mut gingen wir wieder an die Arbeit. Auf unserem Feld stand noch ein Stückchen Weizen. Wir gingen mit der Sense bei und mit dem Handwagen wurde es eingefahren. Auch auf der russischen Kommandantur wurde geerntet und gleich gedroschen. Herr Lachmann organisierte wie immer, er sorgte dafür, daß immer genügend Arbeitskräfte da waren. Durch seinen Einsatz haben wir nicht erlebt, daß wir mit Peitschen zur Arbeit getrieben wurden, wie es in anderen Dörfern geschah.
Am frohen Morgen, wenn das Dorf noch ruhte, höre ich noch heute das vertraute Klappern seiner viel zu großen Gummistiefel auf der Straße. Ich wurde meist zum Kartoffeln schälen eingeteilt. Es wurde Kartoffelsuppe gekocht filr die Leute, die beim Russen arbeiteten. Wenn Suppe übrig war, konnte man sich ein Töpfchen mit nach Hause nehmen. Erich half auf der Kommandantur beim Schlachten der Rinder. Die Lunge, der Magen und das Talg bekamen die Männer, die die Tiere schlachteten. So erhielten wir hin und wieder etwas davon.
Frau Nowak, unsere Nachbarin, die bei ihrer Schwägerin gelebt hatte, kehrte in ihr Haus zurück, konnte aber nicht für sich alleine sorgen. da sie nervlich völlig runter war, so aß und schlief sie bei uns. Frau Heider kam mit drei Kindern aus Flinsberg, sie wollte in ihr Haus in Bunzlau (Bäckerei), dieses war von den Russen besetzt. So blieb auch sie bei uns. Welche Freude, eines Tages fand ich unterm Feuerholz versteckt noch zwei Dosen mit Fleisch, eine Jagdwurstdose und ein Stück Rohfleisch. Oh, wie haben wir alles eingeteilt. Die Kartoffeln wurden geerntet, auch wir brachten unsere Kartoffeln mit dem Handwagen in den Keller.
Immer mehr Polen siedelten sich an. Zog ein Pole ein. wurde eine polnische Flagge am Haus befestigt. Den Deutschen wurde gesagt: ,,Dies nicht mehr dein Haus sondern mein Haus.“ Konnten sie auch kein Deutsch, diesen Satz konnten alle. Auch bei Schwager Erich war eine Polin eingezogen. Es war eine sehr attraktive Frau, aber sehr gehässig gegen die Deutschen.
Herr Heider kehrte heim. Gleich am ersten Abend hatten wir ein Erlebnis, welches ich niederschreiben möchten. Alle hatten sich schon zur Ruhe begeben. Frau Heider und ich badeten die Kinder. Plötzlich pochte es mit Gewehrkolben an die Tür und wir mußten öffnen. Vor uns stand polnische Melitz, sie behaupteten, wir hätten Waffen versteckt und schon waren sie im Haus. Sie durchsuchten das Haus vom Keller bis zum Boden, jeder Winkel wurde mit Taschenlampen abgeleuchtet und jedes Bett wurde untersucht. Sie kamen zu Herrn Heider. Seine Hose, eine blaue Tuchhose, die er unterwegs geschenkt bekommen hatte, wurde sofort weggenommen.
Frau Heider und ich liefen noch hinterher und bettelten, Geldbörse und Hosenträger bekamen wir zurück, doch dann wurde wir zurückgejagt. Am anderen Morgen mußte Herr Heider im Bett bleiben, er hatte ja keine Hose mehr. Opa, der noch eine Reservehose hatte, half Herrn Heider in seiner Not. Herrn Heider wurde von den Polen in die Bäckerei Nowack gewiesen, er mußte für die Polen Brot backen. So brauchten auch wir unser Brot nicht mehr selber backen. Irgendwann kehrte auch Herr Nowack heim.“
Ein Ereignis, das im September 1945 stattfand, reichte Frida als Nachtrag in ihren Notizen nach:
September 1945. Das Dorf schlief noch, alles war ruhig. Frau Alice Dittrich und ich waren in aller Frühe, noch vor Sonnenaufgang, in den Wald gelaufen, um Pilze zu sammeln. Es war ein gutes Pilzjahr, ja ein gesegnetes Pilzjahr, man brauchte nicht lange suchen und die Körbe waren voll. Wir waren gleich in das Birkenwäldchen von Krumau gelaufen zwischen Seitendorf und Giersdorf. Als wir die Körbe halb voll hatten, fand ich einen Plan (Stelle), ich sehe die Pilze noch heute vor meinen Augen, alles Rotkappen von der kleinsten bis zur größten, alles gesunde Pilze.
Als wir sie geschnitten hatten, waren unsere Körbe voll. Im Hause sollten sie gesäubert und getrocknet werden. Wir waren noch nicht aus dem Wald, da hörten wir Schüsse. Was wird nun wieder los sein, waren gleich unsere bangen Gedanken. Herr Schneider, unser früherer Bürgermeister, war von der polnischen Melitz erschossen worden. Früh morgens um 5.30 Uhr. Auf seinem Hof war ein Pole, schlecht und gehässig. Ohne Grund wurde er abgeführt.
Herr Schneider arbeitete auf der russischen Komandantur. Ob er sich da Hilfe holen wollte? Man weiß es nicht.
Jedenfalls war er an der Stelle, wo der Steg zur Komandantur führte, zur Seite getreten. Sofort schoß man ihn zusammen. Niemand durfte in die Nähe der Leiche treten. Mittags wurde sie zum Friedhof gebracht. doch niemand durfte folgen. Die deutschen Männer hatten schnell einen Sarg, sagen wir besser eine Kiste, zusammengenagelt. Herr Schneider hinterließ seine Frau und einen gelähmten Sohn. Zwei gesunde Söhne hatte die Familie im Krieg verloren.
Chronologisch sollte die Geschichte sodann im Herbst 1945 weitergehen.
„Es wurde Herbst und auch wir wollten uns ein Stücken Land mit Weizen bestellen. In aller Frühe hatte ich mir eine Egge auf den Handwagen geladen und war zum Kartoffelacker gefahren. Ich hatte schon einmal rumgezogen, da kam Oma gelaufen und rief: ‚Quäle dich nicht, an unserer Haustür hängt ein Zettel!‘ Dies war das Zeichen, daß ein Pole einziehen wollte.
Sie kamen noch am selben Tag. Ein Transport Galizier-Polen war auf der Bahnstatmn Groß Hartmannsdorf eingetroffen. Das waren Polen aus der Ukraine, die der Russe ausgewiesen hatte. Als Ersatz für ihre Heimat wurden sie in Schlesien angesiedelt. Wie viele Polenfamilien an diesem Tag in Giersdorf einzogen, weiß ich nicht, jedenfalls sehr viele.
Unsere Polenfamilie bestand aus sechs Personen, Johann mit Frau, Maria, die Eltern und der Waisenjunge Josef. Sie brachten folgendes mit: 2 Pferde, 2 Kühe, etliche Enten, Gänse und Hühner. Außerdem viele Zentner Getreide, darunter auch Buchweizen, ein Faß Honig und ein Faß Fett, Kleider, Pelze, wunderschöne Decken und dergleichen mehr. Im Hof standen Bienenstöcke, natürlich mit Bienen besetzt. Ein alter Pflug, eine alte Hegelmaschine und noch viel anderer Kram. Johann ging durch unser Haus und suchte für seine Familie die Zimmer aus. Die Küche, die kleine Stube und ein Schlafzimmer konnten wir behalten.
Die Polenfrau mit Namen Hedwig, weinte sehr. Johann, der etwas Deutsch sprach, erklärte uns: ‚Zu Hause neuer Dom (Haus), ich Viehhändler, in jeder Tasche Geld, gut leben. Unsere Heimat Ukraine, das hier nicht mehr dein aber auch nicht mein.‘ In dieser Beziehung hatten wir großes Glück, er hat uns nie schikaniert, er war immer zuvorkommend.
Er fing auch gleich mit der Feldbestellung an. Noch höre ich seine Worte: ‚Frida mitkommen, ich nicht weißen, wie tief pflügen, kenne nicht Pflug, kenne nicht Acker, Ukraine anderer Boden.‘ Das Wintergetreide war bald in die Erde gebracht. Da ein Pole im Haus war, brachten wir auch nicht mehr auf der Komandantur arbeiten. Unsere Zentrifuge wurde wieder in Betrieb gesetzt. Die Polenfrau schenkte uns täglich ein Töpfchen Milch. Auch die Dreschmaschine, von der wir noch die Treibriemen besaßen, wurde in Ordnung gebracht. Wir durften von unserem Getreide soviel dreschen, wie wir zu Mehl brauchten. Manchmal bekamen wir ein Ei geschenkt. Brotbelag gab es außer Sirup, den wir uns selbst gekocht hatten, nicht. Wir kochten uns Brei aus Weizen, der mit Kräutern gemischt wurde, soweit welche vorhanden. Dieser Brei wurde aufs Brot gestrichen.
Um eine Semmel zu backen, wurden Kartoffeln gekocht und gerieben, mit Wasser vermischt, 24 Stunden stehengelassen und dann als Treibkraft benutzt. Mit Salz war es auch schlimm, oft wurde Viehsalz verwendet. An den Teig der Semmel durfte weder Milch, Fett noch Zucker. Hatten wir nicht, konnten es auch nicht kaufen, denn wir besaßen ja keine Sloti. In Giersdorf gab es kein Geschäft, die Polen kauften in Bunzlau ein.
Einmal schenkte mir die Polenfrau einen Hering. Ich habe ihn auf zwei Mahlzeiten aufgeteilt, so haben sich 10 Leute daran satt gegessen. Dies ist heute kaum vorstellbar. Erste Mahlzeit: Der Hering wurde zerkJeinert, aus dem Gemüsegarten mit Kräutern gekocht, Mohnüben und Sellerie dazu und mit Milch verfeinert. Dazu gab es Pellkartoffeln. Zweite Mahlzeit: Rapsöl, Mehl und Heringsmilch, in dieser Zeit eine delikate Sauce. Natürlich gab es wieder einen Topf.Kartoffeln dazu. Rapsöl hatte Schwager Erich für uns gepreßt. Der Raps wurde gekocht und durch die Siruppresse getrieben.
Weihnachten [1945]. Von der Polenfrau hatten wir ein paar Eier geschenkt bekommen, auch die Polenoma brachte uns zwei. Wir waren reich, jeder konnte am hl. Abend ein Ei essen mit Kartoffelsalat. Leider war der Salat fast ungenießbar, denn mein Obstessig war zur Neige gegangen. Den Ebereschenessig, den ich nehmen mußt, war bitter. Auch diesen Essig hatten wir selbst bereitet. Johann hatte uns erlaubt, für eine Stunde zu Schwager Erich zu gehen. Dora, meine Schwägerin hatte das Glück, igendwie Hefe aufzutreiben. Sie hatte noch etwas Zucker, und sie hatte einen Kuchen gebacken. Oh, wie hat er gut geschmeckt, obwohl er in Angst verzehrt werden mußte, Erichs Polenfrau durfte uns nicht erwischen.
Durch die Weiden gingen wir nach Hause. Die Polen schoßen durch die Gegend, eine Kugel pfiff dicht in unserer Nähe vorbei. Waren wir froh, als wir zu Hause waren. Johann lud uns zum Nachtmahl ein, es gab Brot und Sülze. Plötzlich kam eine Gruppe Polen, sie führten ein Laienstück auf. Verstehen konnten wir nichts, es handelte aber von König Herodes und Schnitter Tod.
Es war häßliches, kaltes Wetter und Schneetreiben. Die deutschen Männer mußten zum polnischen Bürgermeister, es sollte Vieh getrieben werden. Im Hof des Bürgermeisters mußten sie sich aufstellen, wie die Soldaten. Wer nun noch gute Schuhe oder Stiefel hatte, mußte sie ausziehen, von Vieh treiben keine Rede mehr. Wir Deutschen mußten weiße Armbinden tragen, jedes polnische Kind durfte uns beschimpfen oder bespucken.
Februar, Schwager Erich hatte Geburtstag. Wir durften am Nachmittag gratulieren gehen. Kaum waren wir wieder zu Hause kam ein Auto bei uns vorgefahren. Es war polnische Melitz 4 oder 5 Mann. Sie führten Erich ins Haus. Er wurde bei Johann im Zimmer, das neben unserer Stube lag, laut und hart vernommen. Er wurde beschuldigt, seiner Polin Gift in das Mehl gestreut zu haben, sein früheres Dienstmädchen geschlagen zu haben und noch vieles mehr. Alles erfundene und erlogene Dinge. Aber es durfte nicht widersprochen werden. Herr Lachmann wurde auch noch abgeholt. Die Melitz schoß durch die Gegend und die Männer brachte man nach Ludwigsdorf auf die polnische Polizeistation. Drei Tage wurden sie dort vernommen, schikaniert und sogar geschlagen. Johann sagte mir, ich Erli nicht helfen kann, mir gedroht, ich zu deutschfreundlich. mich bestrafen.
Ostern. Unsere Polenfamilie kochte vor. Sämtliches Essen, daß sie an den Feiertagen verzehren wollten, brachten sie in die Kirche, es wurde geweiht. Es wurde bei ihnen zu den Festtagen nur kalt gegessen. Ich wollte meine Mutter und meine Schwägerin Herta in Harpersdorf besuchen. Johann schrieb mir einen Zettel, was drauf stand wußte ich nicht. Er sagte, mit dem Zettel käme ich gut hin, auch die Russen würden mir nichts anhaben. Es ging auch alles die 27 km gut.
In Harpersdorf ging ich erst bei einer Nachbarin vorbei. Frau Hoffinann erschrak, als sie mich sah. Sie meinte, du darfst nicht auf euren Hof: kein Deutscher darf Mutter und Herta besuchen, der Pole ist sehr schlecht. Weil ich aber meinen Zettel hatte, gab ich nicht auf. Herta und Mutter waren im Vorgarten, welch ein Wiedersehen!! Da kam auch schon der Pole, ich reichte ihm meinen Zettel und konnte bleiben. Ich durfte sogar eine Nacht bei ihnen schlafen. Mutter und Herta brauchten den Tag nicht mehr arbeiten, wir konnten in ihr Zimmer gehen, die Polenfrau brachte sogar etwas zu essen.
Die Polenfamilie hatte fünf Kinder, die stahlen wie die Raben, sie nahmen meiner Mutter und Herta das Letzte weg. Es waren Warschauer Polen, die scheuten vor nichts zurück. Die Frübjahrsbestellung ging an. Es wurde gesät, Mist gefahren, gepflügt und Kartoffeln gepflanzt. Es gab alle Tage Arbeit auch Oma mußte mit und der Polenjunge Josef. Der Gemüsegarten wurde bestellt, eine Hälfte für die Polenfamilie, eine Hälfte für uns. Jetzt gab es wieder Kräuter, Schnittlauch, Petersilie und Liebstöckel. Auch auf dem Felde wuchs es sehr gut, es war ein fruchtbares Jahr.
Mitte Juni, welch ein Freudentag für mich und für uns alle denn mein Mann hatte geschrieben. Seit Dezember 1944 hatte ich keine Nachricht mehr erhalten. Aus französischer Kriegsgefangenschaft entlassen, war er bei seinem Kriegskamerad Albert Heuer in Rüper Krs. Peine untergekommen. Die Post erhielt ich durch die innere Mission. Ich schrieb noch am selben Tag zurück. Ein Pastor aus Bunzlau hatte einen Passierschein, er durfte in Görlitz über die Neiße gehen und holte dort die Post ab, die für Bunzlau und die umliegenden Dörfer eintraf. So wurde einmal in der Woche auf diese Weise die Post hin und her befördert. Für unser Dorf holte Frau Uhlig die Post ab.
Die Blaubeeren waren reif. Wenn wir Zeit hatten, liefen wir in den Wald, um die für uns so kostbaren Beeren zu pflücken. Es war eine reiche Ernte und so hatte ich schon viele Flaschen und Gläser stehen. Eines Sonntags, ich war früh aufgestanden, weil ich mich mit einigen Frauen verabredetet hatte, um in den Wald zu gehen, kam unsere Polenoma ganz aufgeregt in die Küche. Sie weinte und redete mit Händen und Füßen, ich verstand kem Wort, aber ich glaubte, sie hätten Streit in der Familie gehabt, was wir schon oft bemerkt hatten.
Zu spät kam ich los und hatte die Frauen verpaßt, glaubte aber, sie im Wald zu finden. Ich hatte noch nicht viel gepflügt als eine Frau aus dem Nachbarort Kunzendorf angelaufen kam. Na, sagte sie, sie wollen wohl noch ein paar Beeren holen, ich mußte auch noch mal in den Wald denn wir werden heute ausgewiesen, wir müssen weg. Dies war in letzter Zeit schon von einigen Dörfern erzählt worden, aber man wollte es nicht glauben. Da fiel mir unsere Polenoma ein und ich lief nach Hause.
Unterwegs wurde mir schon erzählt, wir werden ausgewiesen. Opa, Oma und Eckhard saßen in der Stube, Opa sagte, wir müssen wieder packen. Johann kam und sagte, dies nicht gut, dies eure Heimat, meine Heimat Ukraine, ich wieder zurück, ihr wieder zurück, das gut. Ja, wir glaubten auch an eine Rückkehr. leb lief zu Heiders. FrauHeider nähte Rucksäcke für die Kinder. Auch ich nähte noch schnell einen kleinen Rucksack für Eckhard. Unsere paar Habseligkeiten waren schnell zusammengepackt. Wenn ich mich recht erinnere, waren sogar die Kilo vorgeschrieben, die wir mitnehmen durften. Nochmal kam Kontrolle ins Haus, die Gepäckstücke wurden aufgeschrieben.“
Die dritte Flucht, 3. Juli 1946
So kam es, dass die Gruppe nun zum dritten Mal die Flucht antreten musste.
„Ausgewiesen wurden wir am 3. Juli, der Geburtstag von Eckhard. Alte Leute, Kinder und unser Gepäck wurde von den Polen mit Pferdewagen gefahren. Es ging nach Plawitz, als Lager diente die große Nervenheilanstalt. Einige Tage mußten wir hier noch verbringen, auch andere Dörfer war dort. Der erste Transport ging ab. Aufgerufen wurde der Ort Lauterseifen, ein kleiner Ort. Der Zug wurde nicht voll darum wurden Familien aus Giersdorf zugeladen. Unser Dorf wurde dadurch zerrissen.
Wir Zurückgebliebenen kamen am nächsten Tag weg. Noch einmal wurde kontrolliert, uns konnten sie nichts mehr nehmen, wir hatten nur noch altes Zeug. Manche hatten noch Schmuck und neue Wäsche, hier wurde sie auch dieses los. Traurigen Herzens verließen wir unsere Heimat Schlesien. Der Gedanke, frei zu sein, wieder unter deutschen Menschen zu leben, nach Deutschland heimzukehren hielt uns aufrecht.
Als der Zug Bunzlau hinter sich gelassen hatte, sangen wir mit belegter Stimme: Nun ade, Du mein lieb Heimatland, lieb Heimatland ade! Der Transport kam im Lager Marienthal an und wir wurden registriert. Es ging weiter, die nächste Station war Bockenem in einer Schule. Wir erkundigten uns, wo Peine und der Ort Rüper liege. Als wir hörten, daß es ganz in der Nähe war, fiel uns ein Stein vom Herzen. Bauern kamen und suchten Leute zur Arbeit, Gespannfiihrer und Schäfer. Einige meldeten sich. War aber und noch mehrere Familien aus Gicrsdorf hatten beschlossen, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen.“
Die neue Heimat: Hoheneggelsen, Juli 1946
„Ein Lastwagen kam und brachte uns nach Hoheneggelsen es war Mitte Juli [1946], ich glaube am 17. Einige Tage lagen wir in Aschemanns Saal. An Herbert, meinen Mann, gaben wir ein Telegramm auf. Uns wurde ein Zimmer im damaligen Molkereihaus in der Bahnhofstraße zugewiesen. Es war ein schönes Zimmer, ein Tisch, einige Stühle und ein Ofen stand drin.
Es klopfte, Herbert mein Mann stand im Zimmer. Dies Wiedersehen möchte ich lieber nicht beschreiben. Drei Säcke mit Sachen, Taschen mit etwas Geschirr und eine Sportkarre, das war alles, war wir von zu Hause mitgebracht hatten. Doch unsere Familie war zusammen, Opa, Oma, mein Mann, Eckhard und ich waren gesund, wollten arbeiten und aufbauen. Der Anfang war sehr schwer, aber wir haben es geschafft.
Acht Jahre wohnten wir in der Bahnhofstraße, ein Zimmer und die Veranda als Schlafzimmer. Acht Jahre wohnten wir anschl. im Gasthof Osterwald am Bahnhof und jetzt haben wir ein Eigentum in der Adenstedter Str. 6. Wir sind Hoheneggelser! Hoheneggelsen ist uns zur zweiten Heimat geworden.
Vergessen können wir aber unser Giersdorf, unser Elternhaus, unser schönes Schlesierland, das Riesengebirge und unseren Rübezahl nie. Trotz all der schweren Zeit, trotz aller Entbehrungen danke ich Gott, daß er mich vor Vergewaltigungen beschützt hat. Wohl war das Essen kärglich, aber Hunger haben wir nicht gelitten. Der Krieg forderte von unserer Familie kein Menschenleben, nicht von meiner und nicht von der Familie meines Mannes. Alle sind gesund nach Hause gekommen alle haben wir uns wieder gefunden. Auch Schwager Willi, der Mann meiner Schwester, der von den Russen verschleppt wurde, kehrte heim.
Wir Giersdorfer halten noch heute, fast 40 Jahre nach der Vertreibung zusammen. Unser Dorftreffen findet alle zwei Jahre statt, einmal im Rheinland, einmal in Hoheneggelsen. Jedesmal gibt es ein freudiges Wiedersehen. Herr Lachmann, der sich auch heute noch für die Interessen der Flüchtlinge einsetzt, hat das Bundesverdienstkreuz erhalten.
Schließen möchte ich mit dem schönen Schlesierlied:
Oh, Du Heimat, lieb und traut,
wonnig Dich mein Auge schaut,
Land, wo meine Wiege stand,
froh die Jugend mir entschwand.
Da bist, Dein gedenk ich stets und gern.
Du mein Heimatland, ob Dir nahe oder fern,
bleibt mein Flehen zu Gott gewandt
beschirme allzeit seine Hand,
Dich, mein liebes Schlesierland.